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PD Dr. Friedrich Heubel

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PD Dr. med.  Friedrich Heubel   
Statement: Wort zur Sache am 23. Juli 2012 in der Elisabethkirche

Meine Damen und Herren,
viele von Ihnen sind, denke ich, nicht das erste Mal hier und Sie sind hier, weil es Ihnen um das Wohl unseres Klinikums geht. Wir alle haben das Gefühl, dass der Verkauf unseres Klinikums an eine private Krankenhauskette, also die sogenannte materielle Privatisierung, ein Fehler war. Und zwar ein Fehler nicht nur in dem Sinne, dass die Landesregierung ihren Zweck nicht erreicht hat. Die Landesregierung wollte den Landeshaushalt entlasten und zugleich die Krankenversorgung verbessern. Und das ist nicht gelungen. Denn ob der Haushalt auf Dauer entlastet bleibt, ist fraglich, und unverkennbar ist: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, insbesondere die Pflege, sind unter einen Druck geraten, der ihnen ein Arbeiten entsprechend ihrem Berufsethos nahezu unmöglich macht. Mit anderen Worten, nicht nur technisch, sondern auch ethisch scheint da etwas schiefzulaufen.

Deshalb will ich heute versuchen, etwas darüber auszumachen, wo aus ethischer Sicht der entscheidende Fehler liegt und was man tun könnte oder sollte, die Sache wieder ins Lot zu bringen. Ich will gleich klarstellen, dass es nicht um Schuldzuweisungen an Einzelpersonen geht, also nicht um ein Moralisieren. Ich will vielmehr versuchen, die Regeln und Kriterien klarer und deutlicher zu machen, an denen wir uns orientieren, wenn wir öffentliches Handeln beurteilen. Denn dazu fühlen wir uns besonders dann aufgefordert, wenn wir den Eindruck haben, es läuft etwas schief. Und schon das - dass wir uns aufgefordert fühlen - ist ja ein moralisches Faktum.

Ich werde also erstens etwas zum Thema Gerechtigkeit sagen und zweitens etwas zum Thema Fürsorge oder Solidarität. Erstens, zur Gerechtigkeit: Im Gesundheitswesen spielen wir ja alle miteinander zwei Rollen. Wenn wir krank sind, wollen wir so gut versorgt werden wie möglich, auch wenn es teuer wird. Solange wir aber gesund sind, sollen unsere Beiträge zur Krankenversicherung so niedrig sein wie möglich. Außerdem ist uns klar, dass unserer arbeitsteiligen Gesellschaft am besten gedient ist, wenn jeder an seiner Stelle gute und zuverlässige Arbeit macht. Man will sich auf die Arbeit aller anderen verlassen können. Mit anderen Worten, jeder von uns hat nicht nur das Interesse, selbst gesund und leistungsfähig zu sein, auch alle anderen sollten es sein. Auch die sollten deshalb möglichst wenig krankheitsbedingt ausfallen. Und auch für dieses Interesse möchte man nicht mehr bezahlen, als unbedingt nötig. Das ist alles moralisch kein Problem. Es ist nicht anrüchig, Interessen zu haben. Nur: Offensichtlich muss es jemand geben, der schlussendlich entscheidet, wie viel wofür bezahlt werden muss. Und die Frage ist: Wer soll das tun?

Und das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Denn Jeder, ob Bürger oder Krankenversicherter, hat das gleiche Recht, nicht mit mehr Kosten belastet zu werden als sein Mitbürger. Zugleich muss er sich damit abfinden, dass auch sein Anspruch auf Leistungen nicht größer ist als der seines Mitbürgers. Wie weit allerdings Zahlungspflichten und Anspruchsrechte im Einzelnen reichen, ist gerade im Gesundheitswesen schwer festzulegen. Hier kann es ja im Notfall um Leben und Tod gehen, und dann geht die Lebenserhaltung allem anderen vor. Aber eines ist ganz klar: Nicht ein Interessent allein und auch nicht eine Gruppe von Interessenten allein darf bestimmen, wer wann was bekommt. Denn das würde heißen, dass die anderen Interessenten, nämlich die anderen Bürger und Versicherten, nicht mehr gleiche Rechte hätten. Der eine Interessent würde den anderen dominieren, die Interessen von einigen würden die Interessen aller anderen zu Unrecht einengen. Es bleibt also nur übrig, dass die Festlegung von Zahlungspflichten und Leistungsansprüchen von einer unabhängigen, die Rechte Aller berücksichtigenden, also öffentlichen Instanz getroffen wird. Und diese öffentliche Instanz ist nach unserem westlichen Verständnis trotz aller Unvollkommenheiten immer noch der Staat. Vom Staat verlangen wir, dass er seine Bürger gleich, also gerecht behandelt.

Was ist also von einem Staat zu halten, der ein Krankenhaus privaten Anteilseignern verkauft? In jedem Krankenhaus werden Gesundheitsleistungen verteilt. Aber im privatisierten Krankenhaus werden sie nicht in öffentlicher Verantwortung - Verantwortung vor allen Bürgern - verteilt, sondern in der Verantwortung von Managern vor ihren Kapitalgebern. Und das sind Privatinteressen. Privatinteressen dominieren also die Interessen aller anderen. Das ist ein Verstoß gegen das Gerechtigkeitsprinzip. Aus ethischer Sicht noch bedenklicher ist, dass ein Staat, der so handelt, sich selbst unglaubwürdig macht. Er unterminiert Vertrauen. Denn er verabschiedet sich von seiner Verantwortung. Und aus der können wir ihn nicht entlassen, es sei denn, wir geben die Idee vom gerechten Staat überhaupt auf. Das ist so offensichtlich, dass man sich fragt, wie es zum Verkauf unseres Klinikums kommen konnte, zumal da noch ein weiterer öffentlicher Auftrag im Spiel ist, nämlich Forschung und Lehre. Fairerweise muss man allerdings weiter fragen. Denn der Verstoß gegen eine Verpflichtung führt nicht automatisch zur Verdammung derjenigen, die pflichtwidrig gehandelt haben. Ihr Handeln könnte aus anderen Gründen gerechtfertigt sein. Eine Rechtfertigung könnte möglicherweise darin liegen, dass man zwar gegen die Gerechtigkeit verstoßen, die gesundheitliche Versorgung aber dennoch verbessert hat. Das aber trifft nicht zu. Denn mittlerweile ist offensichtlich: Es mag zwar darüber gestritten werden, ob oder in welchem Maße eine Verschlechterung eingetreten ist, aber eine Verbesserung ist, übers Ganze gesehen, jedenfalls nicht eingetreten. Ich finde also keine Rechtfertigung. Aber gibt es denn vielleicht eine Entschuldigung? Waren die Entscheider vielleicht einfach in einem Irrtum befangen?

Ich denke, dass das der Fall war und komme damit zu dem angekündigten zweiten Punkt, dem Thema Fürsorge oder Solidarität. Bevor ich allerdings dazu komme, erinnere ich uns an den Unterschied zwischen käuflichen und nicht käuflichen Produkten oder Angeboten, die sich im Gesundheitswesen mischen.

Unser Klinikum ist Teil eines Unternehmens. Unternehmen stellen Produkte her und verkaufen sie. Auch Dienstleistungen wie die von Bahn und Post sind, ökonomisch gesehen, Produkte, und werden von diesen Unternehmen auch so genannt. Ökonomisch gesehen, bietet also auch unser Klinikum Produkte an. Unternehmen können verschiedene Formen haben. Das Unternehmen, von dem unser Klinikum ein Teil ist, ist eine Aktiengesellschaft. Aktionäre haben die Aktien ihres Unternehmens gekauft. Damit haben sie ihrem Unternehmen Geld gegeben, damit es seine Produkte herstellen und anbieten kann. Dafür erwarten sie einen Gegenwert, die Dividende, ebenso wie jemand für verliehenes Geld Zinsen bekommt - übrigens wie wir alle, die wir Konten haben. Und ebenso wie man Produkte kaufen und verkaufen kann, kann man auch Aktien auf einem Aktienmarkt kaufen und verkaufen. Ein Aktionär, dem die Dividende zu klein ist, kann seine Aktien verkaufen und Aktien von Unternehmen mit höherer Rendite erwerben. Das ist alles - jedenfalls im Prinzip - ebenfalls moralisch unproblematisch.

Allerdings gibt es ein Problem bei den Produkten. Es gibt nämlich Gegenstände, die für die meisten von uns von großem Wert sind, die zu kaufen oder zu verkaufen aber gar nicht möglich ist. Zum Beispiel Rechtssicherheit: Ohne ein Mindestmaß an Rechtssicherheit würde die Gesellschaft nicht funktionieren. Und deshalb kann ich mir in einem Streitfall "mein Recht" durch ein Gerichtsurteil verschaffen. Aber ich kann das Gerichtsurteil nicht kaufen. Wäre das Urteil käuflich, dann wäre das Recht dahin. Korruption ist nicht Recht. Von ähnlichem Wert für die Allgemeinheit, nur weniger offensichtlich sind die sozialen Hilfeleistungen der Kirchen wie Caritas und Diakonie. Aber wie ich ein Urteil nicht kaufen kann, so kann ich auch das nicht kaufen, was meine Kirche mir persönlich durch Seelsorge vermittelt, wenn ich ein gläubiger Mensch bin. Ich umschreibe es mal mit dem plumpen Wort Seelenfrieden. Meinen Seelenfrieden kann ich nicht von einem anderen Menschen kaufen, und einem Menschen, der nach Seelenfrieden sucht, kann ich den Seelenfrieden, den ich selbst habe, nicht verkaufen.

Keine Frage: Justiz und Kirche kosten. Beide brauchen Bauten, technische Hilfsmittel, Verwaltungsinfrastruktur und vor allem: ausgebildetes Personal. Das kostet Geld. Wir bringen es durch unsere Steuern auf. Und der Einzelne zahlt bei einem Rechtsstreit dazu noch Gerichtskosten und beim Gottesdienst werden Kollekten gesammelt. Wir zahlen also. Dennoch ist es wahr, dass man weder ein Urteil noch den Seelenfrieden auf entsprechenden Märkten kaufen kann. Woran liegt das? Es liegt daran, dass ich an "mein Recht" und an "mein Seelenheil" - soweit es etwas mit Kirche zu tun hat - nur durch eine vermittelnde Person herankomme. Der Richter und der Geistliche sind beide kompetent, der eine auf den Gebiet der Rechtswissenschaft, der andere auf dem Gebiet der Theologie. Aber ihre eigentliche Expertise besteht darin, ihre Kompetenz für den jeweils einzelnen Menschen fruchtbar zu machen, zu beurteilen, was für ihn, und nur für ihn, das Richtige oder wichtige ist. Sie sind Vermittler von etwas, an das der hilfesuchende Mensch aus eigener Kraft nicht ohne Weiteres herankommt. Wenn man also "mein Recht" oder "mein Seelenheil" überhaupt ein Produkt nennen will, so ist es ein Produkt, das mit dem hilfesuchenden Menschen so verbunden ist, dass man es nicht von ihm abtrennen kann, also auch nicht wieder verkaufen.

Das alles gilt grundsätzlich auch für die Gesundheit. Gesundheit ist etwas, was wir alle wollen, nicht nur jeder für sich selbst, sondern auch für alle anderen. Das man aber nicht direkt kaufen kann, obwohl man für das Gesundheitswesen nicht wenig Steuern und Versicherungsbeiträge zahlt. Vielmehr ermitteln Ärzte wie Treuhänder in meinem, nicht in ihrem Eigeninteresse, welche Gesundheitsmittel genau für mich in genau meiner Lage die Geeigneten sind, und die Pflegenden ersetzen das, was ich in meiner Notlage nicht mehr selbst aus eigener Kraft leisten kann.

Das Problem ist nun, dass die Privatisierung diese Treuhänderrolle verfälscht. Der Grund dafür ist letzten Endes: Anders als Richter und Geistliche produzieren Ärzte Kosten, nämlich Behandlungskosten. Zwar ist die Gesundheit NICHT käuflich, aber die GesundheitsMITTEL sind es. Medikamente, technisches Gerät, Untersuchungsmaterial, müssen auf den entsprechenden Märkten gekauft werden. Und jeder Krankenhausträger muss versuchen, seine Kosten zu begrenzen. Wenn nun der Krankenhausträger eine Aktiengesellschaft ist, ist es für ihn überlebenswichtig, seinen Aktionären Dividenden zu zahlen, denn er muss sie - bei Gefahr der Insolvenz - bei der Stange halten. Damit schiebt sich das Interesse der Aktionäre vor das Interesse der Patienten. Und damit haben wir das vorhin angesprochene Gerechtigkeitsproblem: Das Interesse einer privaten Gruppe dominiert die Gesundheitsinteressen aller anderen. Das größere Problem aber scheint die Verfälschung der Treuhänderrolle zu sein. Um dem Kostendruck standzuhalten, greift das Unternehmen in die professionelle Entscheidungskompetenz der Ärzte ein, indem sie sie beispielsweise dazu animiert, die Fallzahlen von besonders ertragreichen Behandlungen zu steigern. Für die Ärzte, deren Berufsethos sie auf die Bedürfnisse der Patienten verpflichtet, ist das ein Übergriff. Und wenn in der Pflege Stellen gestrichen werden, mißachtet man die kommunikativen Höchstleistungen, die Pflegende alltäglich im Umgang mit Hilflosigkeit, Trauer, Verzweiflung und Todesnähe erbringen. Ärzte und Pflegende geraten in ein Dilemma: Sie wollen weiter tun, was sie für ihren Beruf und in ihrem Beruf gelernt haben, aber sie verlieren die Identifikation mit dem Unternehmen. Zwangsläufig wird dies irgendwann auch für die Patienten merkbar. Dies nicht gesehen zu haben, scheint mir der Irrtum der Landesregierung zu sein. Entschuldbar oder nicht - sicher steht er im Zusammenhang mit dem ideologischen Irrtum vom deregulierten Markt, der alles zum Besten regelt, diesem Irrtum, der erst in den letzten Jahren langsam durchschaut wird.

Als Konsequenz folgen aus ethischer Sicht drei Empfehlungen:

Erstens, das Land sollte wieder zu seiner Gesamtverantwortung für die Gesundheitsversorgung stehen,
zweitens, Krankenhäuser sollten gemeinnützig betrieben werden,
und drittens, wir als Bürger sollten akzeptieren, dass Krankenversorgung, so wie wir sie wollen, teuer ist.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.  

 
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